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„Über den Versuch, das Dasein ästhetisch zu rechtfertigen“
 
Man erinnert sich vielleicht, dass dies doch schon mal jemand nach Schiller versucht hat, richtig, es war dieser Künstler-Philosoph aus Röcken, aber eben nach Schiller. Im Titel ist im Grunde alles bezeichnet, was zu sagen sein wird; es wird der Bogen sein, der sich von Schillers Kopf übers Herz bis hin zu seiner Seele spannen lässt, bis zur Seele - wie wir behaupten möchten - jedes künstlerischen Menschen.
Es wird ein „Versuch“  sein, und dabei wird es auch bleiben, ein Versuch, sich einem Geist zu nähern, der sich der Freiheit verschrieben hat; der dafür geschwitzt, getrunken, gelitten und geliebt hat. Doch warum wird es nur beim Versuch bleiben? Weil Schiller selbst nichts anderes übrig blieb, als sich seiner Freiheit anzunähern, als sich in seinem freien Geist zu begegnen. Und diese Begegnung findet in seinem Körper, in seinen Gedanken, Stimmungen und Empfindungen statt – im weitesten Sinne also in der Sprache, die uns nur in einer unendlichen Vielfältigkeit zur Verfügung steht. Sie lässt sich nie, und von daher bleibt es stets bei der Annäherung an etwas, gefügig machen. Es bleiben uns immer nur die Momente, in denen wir glauben, etwas begriffen zu haben. Es ist die unendliche Bewegung der Sprache wie des Lebens. Man könnte sagen, dass die Sprache wie das Leben Freiheit einfordert. Das Gegenteil wäre der Tod; der Tod interpretiert nicht, und er lässt auch nicht die Freiheit der Auslegung zu, das kommt dem Leben oder dem Lebenden zu, notgedrungen – und seinem Versuch, sich etwas zurechtzulegen, um sich daran orientieren zu können. Das Leben fordert stets dazu auf und die Kunst ist der ständige Versuch, sich in einer unendlich auslegbaren Welt Orientierung zu verschaffen.

Wir sind unentwegt aufgefordert, Sprache zu gebrauchen in Worten, Blicken, Gesten, Träumen, Gefühlen, Assoziationen und sonstigen Ausdrücken der Begegnung. Wir werden stets aufgefordert, uns auszulegen; man könnte sagen, wir sind verurteilt zur Freiheit! Mit jedem Moment des Daseins fordert es uns auf, sich unseres Menschseins zu vergewissern. Wir werden noch zu den beiden Arten von Freiheit kommen, die einen künstlerischen Menschen von einem weniger künstlerischen unterscheidet.
   
Das Dasein lässt sich nie endgültig und abschließend bestimmen; es kommt nie zu einer letzten und definitiven Wahrheit. Gleichwohl will es bestimmt werden; anders lässt sich nicht leben. Und allein in dieser Form zu leben, ja, leben zu müssen, heißt sich ästhetisch zu verhalten. Der Unbestimmtheit des Daseins begegnen wir mit unserer Stimme, sagen, was sie für uns bedeuten, sagen es laut oder aber im leisen Selbstgespräch. (Warum wohl hat Schiller Dramen geschrieben? Es ist die Aneinanderreihung von Stimmen und Stimmungen!?) Wir erklären uns, was die Dinge bedeuten, und hören anderen zu, was für sie die Dinge bedeuten. In dem Versuch, sich die Dinge des Lebens zurechtzulegen, begegnen wir uns im Selbstgespräch wie auch im Gespräch mit anderen. Dieses Verhalten, das ein grundsätzliches ist, ist ästhetischer Natur; denn jede Begegnung führt zu bestimmten Bedeutungen, die solange zählen, bis sie nicht(s) mehr bedeuten oder hinter anderen Bedeutungen verblassen, die dann als die besseren erscheinen. Unser Verhalten ist ästhetisch, eben weil es keine endgültige Wahrheit gibt, die den Begegnungen zugrunde liegt oder als Resultat hervorgeht. Wie ein Fluss Wasser oder ein Sonnenstrahl Licht in sich trägt, tragen wir die Freiheit in uns, das Dasein so auszulegen, wie wir es für nötig halten, dass es ausgelegt werden müsse. Wir bleiben stets den Konjunktiven (und damit dem Leben ästhetisch) verpflichtet. Dagegen sträubt sich freilich unser Wille oder die Sehnsucht, etwas endgültig festzuhalten.

Aber wie so vieles scheint auch das paradox. Denn der Wille respektive die Sehnsucht lebt ja nur aus der (ästhetischen) Haltung, letztlich nichts festhalten zu können. Sie begreift die Unmöglichkeit, etwas in Wahrheit zu wissen. Und genau darin, in dieser Unmöglichkeit, rechtfertigt sie ihr Dasein. Etwas Unmögliches zu begreifen – ist das überhaupt möglich? Ja und nein – zugleich!? Denn zum einen hieße das Unmögliche begreifen, die Zeit und damit das Dasein endgültig festzusetzen (und zu wissen, was es wirklich ist); das wäre der Tod. Zum anderen begreifen oder besser gesagt fühlen wir in jedem Augenblick des Daseins die Unmöglichkeit, dass etwas über alle Zeit hinaus eindeutig gilt – außer die Unmöglichkeit selbst, aber hat nichts Eindeutiges und Orientierung Gebendes! Das Unmögliche begreifen zu wollen, ist der Quell aller künstlerischen Erschaffung eines Werkes; es ist also die Erschaffung eines Ausschnitts von Wirklichkeit.
   Wem das zu schnell geht, der bedenke, wie schnell manchmal die Dinge, die einem etwas bedeuteten, vergehen. Die Ästhetik des Daseins ist also zu allererst ein Formbegriff. Wer offen ist für andere Auslegungen, und wer offen ist für die Auslegungen anderer, der verhält sich offen, tolerant oder eben ästhetisch. Wenn man die Floskel zugrunde legt, dass Schönheit von innen kommt, dann ist dieses Verhalten zudem ein schönes.
   Wir gehen „spielerisch“ mit Worten, Begriffen, Weltanschauungen und Gefühlen um. „Spielerisch“ bedeutet nicht willkürlich oder arbiträr, sondern mit bestimmten Regeln in einem vorgegebenen Regelwerk, gleichwohl in dem Bewusstsein, dass es keine endgültige Wahrheit und damit einen definitiven Begriff für eine solche Wahrheit gibt. Und genau hier begegnen wir Schiller direkt. Denn wie kaum ein anderer Künstler verknüpfte er die Schönheit mit dem Spiel. Spielerisch wird der Mensch schön; natürlich nur solange, wie das Spiel nicht zur Sucht wird, die Weltanschauung nicht zur einzigen Welt und die Bedeutung eines Wortes nicht zu einer Art göttlicher Wahrheit. Beides be-geistert, und das müssen wir expressis verbis verstehen: es regt den Geist an. Es begeistert, weil es uns als offen erscheint; es erscheint als Selbstzweck, als Dasein in seinem Moment, als der Augenblick, der über sich hinaus nichts bedeutet. Ästhetische Rechtfertigung ist der Gegenbegriff zu einer religiösen oder metaphysischen Rechtfertigung definitiver Wahrheit.
    Die Not uns überschwemmender Apperzeptionen oder Eindrücke versuchen wir zu wenden in die sprachliche Genugtuung, etwas zu verstehen. Das ist die Notwendigkeit, mit der Sprache Ordnung zu schaffen. Und das ist ein grundsätzliches Recht eines jeden Lebewesens, sich zu orientieren oder die Dinge so zu sehen, damit ein lesbares Bild der Welt und der Dinge entsteht. Und das Recht unterliegt, seinem Begriffe nach, gewissen Gesetzmäßigkeiten, vor allem der Gesetzmäßigkeit, seine Stimme vor sich selbst wie vor anderen zu fertigen. Man will verstanden werden, obwohl man weiß, dass man nie wirklich verstanden wird, schließlich versteht man sich selbst niemals wirklich – sondern nur notgedrungen für den Moment. Die Stimme, d.h. die eigene Meinung stellt sich also notwendigerweise der Gerichtsbarkeit der Sprache selbst. In allem wohnt der Zweifel. Cogito ergo sum. Die Wahrheit beginnt mit zweien. Alles Zitate von großen Künstler-Philosophen, die ihr Sein und Leben zur Verfügung stellten, nicht um die Wahrheit zu sagen, sondern um anderen Anleitungen zu einem vielleicht geglückten Leben zu geben, mehr nicht, der Rest ist die Unmöglichkeit endgültiger Festlegungen, in der gleichwohl all die Möglichkeiten schlummern, den Versuch neuerlicher Auslegungen zu machen.
   Dies führt zu Schillers Begriff des „Spiels“. Er meint damit die Auslegungen der Welt in den Vorgaben der (sprachlichen) Grammatik als deren Spielregeln. Schiller war ein Spieler im künstlerischen (wie im existentiellen) Sinne. Und je mehr er die Freiheit hinsichtlich der Erschaffung von Welt-Bildern spürte, umso mehr trieb es ihn zur Kunst: er war spielsüchtig! Kunst und Leben waren in ihm eins; „der ist mir der Meister, der seiner Kunst gewiß ist überall“ (Wilhelm Tell, Dritter Aufzug, „Geßler“).
    Intuitiv erkennt man, dass das Leben unendliche Möglichkeiten in sich schließt. Welche Auslegung gewählt wird, bestimmt die Kraft der Auslegung selbst. Das ist das Spiel (mit) der Wirklichkeit.
   In sich die Optionalität zu spüren, etwas immer auch anders betrachten zu können, heißt frei zu sein. Freiheit zu empfinden macht schön. Das Resultat ist eine „schöne“ Kunst: als Ausdruck der Kraft, mit der man seine Welt in den jeweiligen Bildern und Meinungen erschafft. Dies muss jedem zugestanden werden. Hier streifen wir die ethische Komponente des Schillerschen Werkes – und im speziellen seines Spiel- und Schönheitsbegriffs.  Denn Schönheit heißt ja nicht nur, schön zu sein, also mit einem schönen Gesicht oder Körper beschenkt worden zu sein, nein, schön ist man, wenn man Freiheit zulässt! Im Spiel spüren wir den „Reichtum der Kraft“ (Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 27. Brief) als Triebfeder, uns selbst zu bestimmen und nicht von anderen bestimmen zu lassen.
   Die Angst ist die andere Seite derselben Medaille. Wir haben Angst, weil wir nie sicher sind und nie sicher sein können. Es gilt aber, die Angst zu wenden in Schaffenskraft. Dazu müssen wir uns erziehen, erziehen zur Schön- und Freiheit im Spiel der Sprache, zu Worten, die sich finden und übers Herz laufen wie warme Schokolade, Berührungen, die zärtlich sind und fast nicht anders können, zum Lächeln, das auf Verwunderung stößt, weil es Ausdruck einer Seele ist, die frei ist und frei sein lässt.
   Hat Schiller jemals eine seiner Figuren lächeln lassen? Außer seiner Glocke? Wohl kaum. Man zeige mir den unerkannten Ironiker auf der Bühne. Oder ist die Kunst im ganzen eine Ironie, eine Ironie des Schicksals gar? Warum kämpft der Künstler in seiner Einsamkeit, denn anderswo entsteht keine Kunst, mit der Freiheit: in den Krallen der Götter, des Schicksals, der Funken? Warum? Kann nur der am Leben Leidende sich vom Teufel befreien. Mephisto lächelt aus seinem schwarzen Mantel mit seiner gekrümmten Nase einem entgegen. Ist es das Lächeln des Ironikers oder das der Freiheit? Ist er es selbst vielleicht nicht einmal? Der Teufel muss lächeln. Ihm sitzt nämlich die Freiheit im Nacken. Und nur wenn man ihm die nicht stibitzt, ist man selber dran. Denn was er am wenigsten mag und ihn am meisten erregt, ist, dass man ihn vergisst. Wir sollen leiden für unsere Freiheit. Wir sollen lügen für unsere Unabhängigkeit. Und wir sollen unsere Lügen verraten – im Spiel, im Abschied, im Vergessen dessen, was wir noch alles zu erledigen haben, aus Angst, dem anderen nicht zu gefallen.
   Die Scham ist die innere Stimme, die dir in angeröteten Wangen zuflüstert, dass es eine moralische Pflicht ist, den anderen seine Bilder erschaffen zu lassen. Das ist es, was das Dasein ins Schöne lenkt.
   Das Schwierigste, das es zu verstehen gibt, ist nun einmal die Freiheit. Wie schafft es ein Mensch dazu? War Gott nicht immer unser Alibi? Nach dem Motto: Er hat uns die Freiheit geschenkt, also ist er frei. Aber warum haben wir uns nie die Frage gestellt, ob er auch schön ist.  Weil er nichts Freies zulässt? Wir vermuten Schlimmes dahinter. Denn wir wollen die Menschen nicht schuldig sprechen, weil sie frei sind. Das ist die Aufgabe der Religion; wenn nicht die absolute, einzige. Nein, Menschen sind frei, wenn sie antworten auf ihre bedrängenden Fragen, zum Beispiel, ob sie wissen, warum sie auf den Prinzen mit dem weißen Pferd warten mit der braungebrannten nackten Brust und den muskulösen Armen und dem tiefen Blick, der von einer anderen Welt kündet, die nichts anderes ist als die Stimme des Herzens, die Bestäubung einer anhängenden Natur, die wir fast abgehängt hätten. Wo gehören wir denn wirklich hin?
   Es ist gar nicht so schwer zu fliegen. Zu verdrängen ist viel schwerer. Das Leben kann schön sein; es sagt uns nichts, es flüstert uns immerzu alles ins Ohr. Wir trauen uns nicht. Wir haben Angst vor uns selbst, hoffen, dass unsere Gefühle und Wünsche und Phantasien in den Poren des anderen versickern. Und wenn der es versickern lässt, nennen wir es Liebe. Es ist aber wiederum nur dessen Angst. Ohne diese Angst werden wir schön, und damit auch die Welt und das Leben. Wir werden dann weder von unseren Gefühlen noch von unserem Denken bestimmt; gleichwohl wir wissen, dass wir damit nicht dem Umkehrschluss erliegen dürfen, nämlich dass wir die Gefühle und das Denken selbst bestimmen könnten. Ein Leben dazwischen wäre für Schiller das Ziel aller Kunst, eben auch der Kunst des Lebens wie des Liebens. Sich weder von außen beherrscht fühlen noch zu beherrschen. Das ist das Schöne als „eine Form, die keine Erklärung fordert, oder auch eine solche, die sich ohne Begriff erklärt.“ (An Körner über die Schönheit. Aus den Kallias-Briefen; Jena, 18. Feb. 1793). Darin allein sind wir authentisch, sozusagen im Reinen mit uns selbst. „Die Schönheit der poetischen Darstellung ist freie Selbhandlung der Natur in den Fesseln der Sprache“, sagt Schiller in „Das Schöne der Kunst“ (Jena, 28.Feb. 1793). Das Pathos verlangt nach einem Ausdruck seiner selbst, d.h. es will sich mitteilen und ausdrücken. Das aber kann es nur in bestimmten, vorgegebenen Formen der Sprache (und ihrer Grammatik). „Der Technik gegenübergestellt, ist Natur, was durch sich selbst ist, Kunst ist, was durch eine Regel ist. Natur in der Kunstmäßigkeit, was sich selber die Regel gibt – was durch seine eigene Regel ist. (Freiheit in der Regel, Regel in der Freiheit.)“ (ebd., Jena, 23. Feb. 1793).
   Darin besteht nun aber genau der Keim der Freiheit. Denn würde man diese „Fesseln“, wie Schiller es nennt, nicht haben, würde alles beliebig sein; es würde die Form fehlen, aus der man seinen persönlichen Stil gießen kann. Der Stil ist der Ausdruck des Persönlichen, des Ureigenen, das zwischen den Zeilen mitschwingt und über unser Bewusstsein hinausgeht. Wenn wir sagen, dass jemand uns beeindruckt hat, so wissen wir meistens nicht, wie wir es beschreiben sollen; es passt halt kein Begriff zu unserem Gefühl, wir haben aber nur Begriffe zur Verfügung. Also müssen wir uns auf die Suche machen nach einem zumindest einigermaßen passenden Ausdruck, den wir letztenendes nie ganz finden werden. Darin liegt die unendliche Bewegtheit des Lebens. Und ein lebendiger Geist zeichnet sich dadurch aus, nie etwas endgültig finden zu wollen. Die Suche selbst ist der Sinn des Daseins – und die Suche ist das künstlerische Schaffen des Ausdrucks, der dem Gefühl am nahsten kommt. Das Gefühl ist also nie zu erfassen. Darin begegnen sich Wirklichkeit und Idealität: Wir können uns nicht beschreiben, wollen es aber immer wieder. Hin und her, her und hin. Das Leben ist nicht verfügbar. Etwas beherrschen zu wollen, ist, so könnte man sagen, die Selbstironie des Willens, der Wolf im Schafspelz, so als wolle man seinen Schatten einfangen. Die Selbstironie des Willens ist die conditio sine qua non der Freiheit. Anders ausgedrückt: Gäbe es etwas Endgültiges, Wahres unabhängig von allen Gefühlen und Begriffen, so könnte es keine Freiheit im Sinne eines sich-selbst-schaffenden Daseins geben. Die Erkenntnis der Wahrheit wäre vorgegeben, und jeder müsste unter einem bestimmten Begriff dasselbe verstehen. Dann aber wäre kein Gespräch mehr möglich, kein Austausch von Gefühlen und auch keine Suche nach dem passenderen Begriff für das jeweilige Gefühl oder Pathos. Die Unmöglichkeit einer letzten Wahrheit eröffnet uns alle Möglichkeiten, uns selbst zu erschaffen; dann spielt die Wahrheit eine nur noch untergeordnete Rolle: das Vertrauen zur Freiheit ist an ihre Stelle gerückt.
 
   In diesem Sinne möchten wir von einer Ästhetik des Scheiterns sprechen. Der Wille, etwas wirklich zu erfassen oder zu erkennen, löst sich in Wohlgefallen auf, weil Erkenntnis nichts anderes ist als die passende Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken; sie gilt immer nur für den Moment. Für einen anderen Moment gilt sie nicht, da scheitert diese Übereinstimmung, weil sie nicht passt. Der Moment verlangt also nach seiner Überwindung; er will scheitern, um frei zu sein für den nächsten Moment, der wiederum seine Übereinstimmung sucht. Da sie allein im Empfinden dessen liegt, ist sie rein ästhetischer Natur. Der Ausdruck ästhetische Natur verwundert vielleicht, aber er ist durchaus bewusst gewählt. Denn zuletzt ist es eine Art von Glück, etwas Passendes zu finden – sowohl in der Liebe wie auch in der Liebe oder der Sprache.
   Das Scheitern bzw. die Aufhebung der Übereinstimmung regt dann wiederum an, sich einer neuen Verknüpfung von Empfindung und Denken, Wirklichkeit und Idealität anzunähern, um auszuruhen in diesen Moment, für den man selber nichts kann. Glückssache. Nichts ist vorgegeben. Außer die Freiheit. Auch die Vorstellung, unfrei zu sein. An der Wirklichkeit oder dem Leben kann man es nie messen, weil diese ihrerseits Vorstellungen sind, nach denen man sich orientiert.
   Die Ästhetik des Scheiterns, d.h. eine einmal gewonnene Vorstellung von etwas jederzeit abstreifen zu können, erzieht, ganz im Sinne Schillers, zu einem Geist, den wir orphisch nennen wollen. Orpheus sucht unablässig, und sobald er vermeint, etwas endgültig gefunden zu haben, stirbt es in seinen Händen weg. Um seine Trauer zu besänftigen, erfindet er Verse und Gedichte. Er redet sich den Schmerz von der Seele. Er suchte also nach anderen Begriffen, die besser passten. Dabei spürte er eine Kraft, die er bis dahin nicht kannte: die Kraft, sich selber zu erfinden. Sich selber zu empfinden in der Suche nach einem anderen Leben. Irgendwo hinter der Trauer und Depression lauerte also die Freiheit, auch anders zu können, auch anders zu lieben, auch anders zu sein.
   Der orphische Denker gibt sich hin. Er öffnet sich unablässig. Er konserviert nichts. Er hält sich nicht fest an der Gegenwart, die längst in den Fängen der Erinnerung vereist ist. Manchmal verstopft der Gedanke, dass es einmal schön gewesen ist, den Moment jetzt; die Erinnerung wird sentimentalisch. Naiv ist derjenige, der von Augenblick zu Augenblick schwingt.
   Der orphisch Fühlende weiß um die unablässige Bedrängnis der Freiheit: sich in jedem Moment neu zu erschaffen, kostet Kraft. Und diese Kraft zu spüren, heißt ein gesundes Selbst in die Wagschale seiner ewigen Suche zu werfen. Zu scheitern bedeutet, die Kraft zu besitzen, sich immer wieder neu zu erschaffen. Es bedeutet, von nichts abhängig zu machen, an nichts zu hängen außer an der Schaffenskraft selbst. Einen Menschen dorthin zu führen, heißt im Schillerschen Jargon, einen Menschen ästhetisch zu erziehen: zur Kunst des Schaffens, zu verführen. Die Nähe der Kunst zum Eros wollen wir einmal unberührt lassen; viel lieber wollen wir zum Schluss kommen. Einen Menschen (ästhetisch) zu erziehen, heißt, ihn zu ermutigen, sich seine eigene Lebensbilder zu erschaffen. Ohne den anderen damit zu verurteilen, nur weil der andere Lebensbilder hat. Ein orphischer Mensch ist frei, sich zu erschaffen – und er ist frei, andere frei sein zu lassen, auch den Menschen, den er von Herzen liebt. Denn gerade den will man ja besitzen und beherrschen, was jede Beziehung tötet, weil Liebe das Verlangen nach dem anderen in seinem Anderssein ist. Zumeist beißt sich aber auch hier die Empfindung in den Schwanz. Sie windet sich um sich selbst. Weil die Selbstironie des Verlangens nicht durchschaut wird. Ich will so geliebt werden wie ich bin. Und warum nicht, wie der andere ist? Könnten wir uns nicht im Scheitern treffen? Da wo wir ästhetisch die Welt und vielleicht unsere Herzen begreifen und berühren, da, wo ein Blick auch immer eine andere Sprache spricht. Da! Einmal und nie wieder. Da-nach ist er vergriffen. Fettflecke oder Fingerabdrücke, deren wir uns nicht mehr bewusst sein wollen. Wir mögen unser ewiges Dazwischensein nicht. Die Selbstironie versteht sich von allein.
   Mit dieser Verurteilung zur Freiheit kommen wir nur schwerlich zurecht. Und wer lebt es uns besser vor als ein Schiller. Dem ging die Kraft, sich ständig neu zu erschaffen und zu ergründen, über alles. Sein Leben verfolgte sich als Selbstzweck, und er wollte es nur so verstanden wissen. Er verebbte nicht im Gewöhnlichen. Natürlich auch Rettungsanker – aber nicht auch ewiges Scheitern? Kaum hatte er eine liebevolle Frau an seiner Seite, vergriff sich das Gift der Krankheit an seinem Körper. Wo sollte denn seine Freiheit münden? Freilich in der Verausgabung. Künstler hängen nicht an ihrer Gewohnheit, sie lieben ihre Schaffenskraft, entlieben sich ihrer Abhängigkeit, sind unfassbar, nichts ist ihnen gleichgültiger als die nicht erschaffene Wirklichkeit!
  Was anderes wollte Schiller uns mitteilen? Verzweiflung und Glück liegen so nah beieinander wie Liebe und Enttäuschung. Sich in Frage zu stellen, und um das zu wissen, immer wieder, der Genugtuung der Endgültigkeit und Sicherheit zu begegnen mit der Treue zu seiner Ehrlichkeit, ehrlich gegenüber dem Gedanken, dass das Endgültige und Sichere nur ein Abgleiten ins Tödliche ist, da, wo kein Pathos mehr bleibt und einem nicht mehr die Freiheit zugestanden wird, etwas anderes zu empfinden als Trauer. Nein! Auch da besteht die Kraft der Liebe die Herausforderung zum Leben. Man braucht den Tod nicht; man liebt den unendlichen Geist schwebend vertrauend hautlich beinahe in seinen Gedanken, man verliebt sich in die Vergänglichkeit, es streichelt ein bewohntes Geheimnis dein Haar – bis man begreift, dass die Freiheit unfassbar ist, so sanft der andere die Worte in sein Ohr dringen lässt, so weich die Haut sich anfühlt, so nah man bei sich ist. Der Schaffende, der sich selbst Schaffende fühlt sich abgesetzt von der Freiheit-wovon; im Schaffen weiß er um seine der Freiheit-wozu. Die Freiheit-wovon ist „nur“ ein Sichlösen von gewissen Abhängigkeiten, die die Seele belasten und zu Krankheiten führen, während letztere, also die Freiheit-wozu die Kraft meint, sich seine Welt und Bilder und Bedeutungen zu schaffen, die man für nötig hält, um seine Individualität zu begründen. Vielleicht ist die Individualität das Resultat einer ästhetischen Erziehung des Menschen, weil darin die Kraft als eine gesunde empfunden wird (vgl. Schillers Gedicht „Der Metaphysiker“ in den Kallias-Briefen vom 23. Feb. 1793).
   Liebe ist da, wo man den anderen, der einem ans Herz gewachsen ist, nicht mehr braucht. Also frei sein lässt. Also frei ist. Als würde man dem Leben auf den Mund küssen… Das hat Schiller zuletzt getan; zu Anfang auch, aber da hatte sein Leben sich mit seiner Kunst noch nicht versöhnt. Es gibt wenige Menschen, die ihr Leben nicht nach der Zeit und ihrem Alter ausmessen. Es gibt wenige Menschen, die ihr Leben als Selbstzweck lieben - Schiller war einer von ihnen. Er hat es mit seiner Kunst herausgefordert, so wie das Leben ihn herausgefordert hat, indem es ihn zu einem unermüdlichen Schaffen (an)trieb, zu dem – so könnte man sagen – verurteilt war. Er war nicht frei dazu, sich ein anderes Leben auszusuchen. Oder andersherum: Er war verurteilt zur Freiheit, sich ständig (in seinen Versuchen, Werken) neu zu erschaffen, ad infinitum über seinen letzten Atemzug hinaus.  


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